DAIRE TRIFFT EVER

Exklusive Bonusgeschichte: Daire trifft Ever

Was geschieht, wenn eine Unsterbliche wie Ever Bloom (EVERMORE) auf eine Suchende wie Daire Santos (SOUL SEEKER) trifft? Hier erfährst du es:


Wenn sie nicht gerade nervös ein Bein über das andere schlägt, an ihren Nagelhäutchen zupft und/oder in ihrer Tasche kramt, versucht Jennika, mich in ein Gespräch zu verwickeln, das ich lieber nicht führen würde. Der Klumpen Kaugummi zwischen ihren Backenzähnen macht ein schmatzendes Geräusch, als sie sagt: „Erinnert mich an Vegas.“

Ich blicke mich um. Sehe mit blassgrüner Lackfarbe gestrichene Wände – eine Farbe wie das Innere einer Gurke – der Farbe der Ruhe – und abgetretene graue Linoleumfliesen, die an den Stellen, wo sie noch keine Risse haben, Blasen werfen. Jennikas Bemerkung ist so was von daneben, da das hier dermaßen weit weg ist vom billigen Glitzer und Glamour von Las Vegas, dass ich nicht einmal darauf reagiere.

Ich schließe einfach die Augen und rutsche an den Rand des gewölbten Plastikstuhls, der sowohl am Boden als auch an der Wand festgeschraubt ist. Alles hier ist irgendwo festgeschraubt. Das soll die Irren daran hindern, die Ärzte, die in ihren weißen Kitteln durch die Gänge schleichen, mit Mobiliar zu bewerfen.

Es ist das Haus der Verrückten.

Ein Ort zur Verwahrung der Wahnsinnigen.

„Erinnert es dich nicht an Vegas?“ Jennika spricht jetzt lauter, eindringlicher. Mehr als alles andere hasst es meine Mutter, ignoriert zu werden, vor allem von mir. Also tue ich ihr den Gefallen und mache mit.

„Du meinst wegen all der Spielautomaten? Oder wegen der unfassbar langen Schlange vor dem All-You-Can-Eat-Steakbuffet?“ Ich werfe ihr einen Seitenblick zu und sehe, wie sie heftig die Augen verdreht und ihre Brauen weit unter dem platinblonden Pony mit der breiten pinkfarbenen Strähne verschwinden. Dann schließe ich die Augen wieder und versuche mich auf etwas Angenehmeres zu konzentrieren, versuche den schönen Jungen aus meinen Träumen heraufzubeschwören. Doch die Medikamente, die sie mir gegeben haben, halten ihn zuverlässig auf Distanz.

„Ich meine, weil es keine Fenster gibt. Und, falls es dir nicht aufgefallen ist, es gibt auch keine einzige Uhr – nirgends!“ Mit finsterer Miene schüttelt sie den Kopf, über die Raumgestaltung ebenso verstimmt wie über die missliche Lage, in die ich uns beide gebracht habe. „Was hast du denn erwartet? Meerblick und Whirlpools? Es ist eine Psychostation, Jennika.“ Meine Stimme klingt lustlos und gelangweilt – als brächte ich kaum genug Energie auf, um mich am Gespräch zu beteiligen. „Da ist es eh am besten, wenn man nicht mitkriegt, wie lange sie einen wegsperren.“

Jennika beugt sich seufzend zu mir herüber. Sie macht sich an meinem langen, dunklen Haar zu schaffen und legt es mir sorgfältig drapiert auf die Schultern, als würde meine Frisur irgendjemanden sonst kümmern. „Es ist keine Psychostation, Daire – es ist …“ Ich sehe sie schräg von der Seite an und warte ab, wohin ihre Jagd nach dem ultimativen Euphemismus sie wohl führen wird. „Es ist eine Klinik.“ Sie schnaubt. „Ein renommiertes Forschungszentrum. Nicht mehr und nicht weniger. Außerdem bist du ja nicht zum ersten Mal hier.“

Als sie erneut beginnt, in ihrer Tasche herumzukramen, vermutlich auf der Suche nach Rouge, um meinen Wangen mehr Farbe einzuhauchen, regt sich in mir der Fluchtinstinkt.

In Jennikas Welt gibt es nichts, was man durch ein gutes Make-up nicht beheben könnte. Als eine der gefragtesten Visagistinnen Hollywoods weiß sie aus erster Hand, welche Wunder ein bisschen Farbe und Glitzer bewirken können. Doch auch noch so viel Zurechtzupfen und Abdecken kann nichts an der Tatsache ändern, dass das hier tatsächlich eine Psychostation ist – und wir hier sind, weil ich kürzlich als verrückt diagnostiziert wurde.

Ich wende mich ab, weil ich Jennika einfach nur in ihrer seligen Verdrängungsblase lassen will. Begierig darauf, so weit weg von ihr und diesen „Experten für seelische Gesundheit“ zu gelangen wie nur möglich.

„Wo willst du hin?“, fragt sie mit ängstlich erhobener Stimme. Ich marschiere bereits davon, als sie mir noch etwas nachruft. „Geh nicht zu weit weg – der Arzt wird dich bald rufen …“

Auf der Suche nach einem Ausgang haste ich den Flur hinab. Ich brauche unbedingt frische Luft.

Muss mir dringend eine Zeit in Erinnerung rufen, als mein Leben noch mehr war als eine endlose Abfolge von bewusstseinsverändernden Medikamenten und psychologischen Begutachtungen.

Ich muss weit weg von hier.

Ich beschleunige meinen Schritt. Folge den Leuchtschildern mit den grünen Pfeilen. Als ich um die nächste Ecke biege, stoße ich mit einem Mädchen zusammen, das so strahlend, so überirdisch schön ist, dass ich mich unwillkürlich frage, ob sie zu den leuchtenden Gestalten gehört, die mich verfolgen.

Falls ja, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis hier alles von Krähen wimmelt. Und wenn das passiert, dann stecken sie mich gleich in eine Zwangsjacke und verfrachten mich in eine weiße Gummizelle, wo ich dann den Rest meines Lebens verbringen kann.

„Alles okay?“ Das Mädchen legt mir die Hände auf die Schultern, um mich zu stützen. „Es tut mir total leid – ich hab nicht aufgepasst, und da …“

Sie legt den Kopf schief, sodass ihr eine Strähne des goldblonden Haars über die Schulter nach vorn fällt, während sie mich mit ihren strahlend blauen Augen fixiert. Und obwohl ich versuche, mich von ihr zu lösen, und ihr einreden will, dass mir absolut nichts fehlt, bin ich von ihrer plötzlichen Berührung viel zu perplex, um auch nur eines von beiden zu tun.

Es ist, als würde Elektrizität aus ihren Fingern strömen und mich von allen Seiten umhüllen.

Sie umfasst meine Schultern fester und senkt die Stimme zu einem Flüstern. „Lass dir bloß nicht einreden, du wärst verrückt“, sagt sie und sieht sich um, als hätte sie Angst, dass man uns belauscht. „Lass dir nicht einreden, es gäbe die leuchtenden Gestalten nicht, denn sie existieren wirklich. Die Krähen auch. Es ist alles real, du bildest dir nichts davon ein.“

Ich schrecke zurück, als hätte ich einen Stromschlag abbekommen. Unsanft reiße ich mich von ihr los, während sich in meinem Kopf die Fragen überschlagen.

Wer zum Teufel ist sie? Und woher weiß sie das mit den Visionen? Hat sie meine Patientenakte gelesen? Ist sie eine entlaufene Irre, die sich als Mitarbeiterin ausgibt?

Lächelnd steht sie vor mir und ergreift entschlossen erneut das Wort. „Ich bin weder das eine noch das andere. Ich heiße Ever. Ever Bloom. Ich beherrsche Gedankenlesen und Telepathie, aber soweit ich weiß, bin ich nicht verrückt. Und ich bin auch keine Patientin, die sich als Mitarbeiterin ausgibt. Allerdings bin ich wahrscheinlich die Einzige hier, die bereit ist, dir zu glauben – ich versichere dir, du wirst dich nicht immer so allein fühlen. Es gibt viele wie uns, die begriffen haben, dass die Welt ganz und gar nicht so ist, wie man uns einzureden versucht.“

„Und was machst du hier?“, frage ich, wobei mir durchaus bewusst ist, dass ich ihre abwegigeren Behauptungen einfach ignoriert und mich nur auf das Unverfängliche konzentriert habe.

„Ich nehme an einer Studie über NTEs teil.“ Als sie meine verständnislose Miene sieht, fährt sie fort. „Über Leute, die eine Nahtoderfahrung hatten.“

„Du bist gestorben?“ Ich lasse den Blick an ihr entlangwandern und denke dabei, dass sie wirklich das sonderbarste Mädchen ist, das ich je getroffen habe. Und doch hat sie etwas derart Beruhigendes an sich, dass ich überhaupt nicht mehr weg will.

„Mehr als einmal.“ Sie hebt die Schultern, und ihre Augen blitzen schelmisch, während sie weiterspricht. „Genau wie es bei dir der Fall sein wird.“

Ich trete von einem Bein aufs andere und weiß nicht genau, wie ich reagieren soll.

„Hör zu“, sagt sie, schaut auf die Uhr und wirft einen Blick auf die Tür direkt hinter ihr. „Das Einzige, was du wissen musst, ist, dass du nicht verrückt bist. Nicht im Geringsten. Also bitte glaub ihnen nicht. Hör auf dein Herz, es wird dich nie in die Irre führen.“

Ich nicke, da ich die Wahrheit hinter ihren Worten spüre.

„Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit zum Reden, aber –“ Sie dreht sich um, als die perfekte Verkörperung von Groß, Dunkelhaarig und Gutaussehend durch die Tür geschritten kommt und sich neben sie stellt. „Wir sind spät dran“, sagt sie.

„Das kommt davon, wenn du mir verbietest, einen Parkplatz zu manifestieren.“ Er reicht ihr eine ungeöffnete Flasche Wasser und lächelt sie auf so hinreißende Weise an, dass ich mich zwingen muss wegzusehen.

Zu spät fällt mir wieder ein, dass sie ja angeblich Gedanken lesen kann. Das wissende Lächeln, das sie mir zuwirft, beweist mehr oder weniger, dass sie mich gerade dabei erwischt hat, wie ich in Gedanken ihren Freund angeschmachtet habe.

„Das ist Damen. Damen Auguste“, sagt sie. Dabei lehnt sie sich an ihn und fügt sich so perfekt an seine Seite, dass sie wie Puzzleteile wirken – wie zwei Hälften, die zusammengehören.

„Ich bin Daire“, sage ich, da mir plötzlich auffällt, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe.

„Ich glaube, deine Mutter sucht dich.“ Damen deutet auf eine Stelle hinter mir, wo – wenig überraschend – Jennika steht und mit finsterer Miene und in die Hüften gestemmten Armen nach mir Ausschau hält.

„Hier.“ Ever drückt mir ihre Wasserflasche in die Hand. „Sag einfach, du wolltest dir was zu trinken holen. Verrat ihr nicht, dass du ausbüxen wolltest. Das wird sie nur wütend machen, und das musst du dir nicht auch noch antun. Außerdem bist du doch jetzt bereit, es mit ihnen aufzunehmen, oder?“

Ich will ihr gerade das Wasser zurückgeben, als auf einmal eine neue Flasche in ihrer Hand erscheint. Vor Verblüffung bin ich derart mit Blinzeln und Luftschnappen beschäftigt, dass ich fast überhöre, was sie als Nächstes sagt. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Glaub an das, was du siehst – und was du in deinem Herzen als wahr erkennst –, und wehre alles andere ab, was sie dir erzählen wollen.“

Ich nicke, werfe einen letzten Blick auf Ever und Damen, wobei ich hoffe, ein wenig von ihrem Optimismus und ihrer Magie mitnehmen zu können, wo auch immer ich hingehe. Gerade will ich mich Jennika zuwenden, die vom anderen Ende des Flurs nach mir ruft, da fügt Ever noch etwas hinzu: „Du bist zu etwas Großem ausersehen, Daire Santos. Du musst nur an dich selbst glauben.“

Ich stutze und sehe sie verwirrt an. Schon will ich ihr sagen, dass mein Nachname Lyons ist, nicht Santos, da nickt sie mir lächelnd zu und bedeutet mir, loszugehen.

Eilig laufe ich auf Jennika zu und lasse mich von ihr umarmen und wegführen, während ich mich an Evers Versicherung klammere, dass die Leuchtenden echt sind. Und die Krähen auch. Und dass die Tatsache, dass ich die Einzige bin, die sie sehen kann, nicht bedeutet, dass ich verrückt bin, sondern vielmehr, dass ich für etwas Außergewöhnliches bestimmt bin.

Ich kann nur hoffen, dass das stimmt.

 

“Daire Meets Ever” by Alyson Noël.  Copyright © 2012 by Alyson Noël, LLC
Übersetzt von Ariane Böckler